Leben ohne Leben

Veröffentlicht auf von Schütgens, Angelika (Blaufedermond)

Müde ist sie – müde von all dem Sehnen und Träumen. Sie sitzt auf dem Baumstumpf der alten Tanne, an ihrem Lieblingsplatz. Verloren schaut sie mit unscharfem tränenblindem Blick in die Ferne. Dorthin wo sie nichts sieht als flimmernde Illusionen. Sie lauscht dem Wispern der Gräser, in denen der Wind spielt, hört den klagenden Schrei eines Greifvogels hoch über ihr.

Wie hat sie es geschafft so viele Jahre Leben zu leben, ohne zu leben? Diese Frage rumort in ihr. Mit untergeschlagenen Beinen sitzt, das sonst unsichtbare Kind, neben ihr auf dem Boden und dreht eine rosa Rose in der Hand. Vorsichtig, tut es das, um sich an den Dornen nicht zusätzlichen Schmerz zuzufügen.

„Warum tust du das?“, fragt es leise und schaut traurig zu ihr hoch.

„Was?“

„Mich so zu bestrafen.“

Erschrocken blickt sie, durch diese direkte Frage unsanft aus ihren Gedanken gerissen, einen Augenblick klar auf das Kind hinunter.

„Wie kommst du denn darauf? Ich bestrafe dich doch nicht!“ erwidert sie verständnislos und gleichzeitig entrüstet. Sie schüttelte leicht den Kopf.

„Tust du nicht? Warum darf ich dann nicht lachen, nicht spielen?“, fragt das Kind erneut.

„Du darfst das doch alles. Ich verbiete es dir nicht.“

„Wie kann ich lachen, spielen, fröhlich sein, wenn du so trübsinnig bist?

„Du darfst fröhlich sein, wann immer du willst, aber mir musst du das Recht zugestehen auch traurig zu sein, wann ich will!“

„Du weißt, dass das nicht geht!“, antwortet das Kind leise. „Wir sind eins und was du fühlst, fühle ich auch.“

Stumm blickt sie auf das Kind zu ihren Füßen und schaut dann, ohne zu antworten, wieder in die Ferne. Es stimmte, sie waren eins. Einst eine Einheit und doch seit Jahren gespalten.

Ja, es stimmt: Sie unterdrückt das Kind. Sie verbietet ihm nichts, aber ohne sie funktioniert auch für das Kind Leichtgkeit nicht.

 

Niemand sah und spürte, wie sie litt,

als das Leben ihr entglitt.

 

 

Veröffentlicht in Kurztexte, VGW

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