Jenseits der Straße
Jenseits der Straße
Es war einmal, nur einen daumenbreit hinter dem Spiegel der Realität, da wohnte eine Hasenfamilie.glücklich und zufrieden auf einer Wiese. Mama Hasina kümmerte sich um die kleinen Mümmler und ging ihren täglichen Beschäftigungen nach. Papa Hopps erkundete tagsüber das Gelände nach Fressbarem für die Familie. Dann und wann schaute er sehnsüchtig auf die gegenüberliegende Straßenseite, die er noch nie besucht hatte. Bisher hatte noch nie Notwendigkeit bestanden den breiten graslosen Weg zu überqueren und sich der Gefahr auszusetzen. Es wuchs nichts auf ihm, nur die dicken Blechkäfer jagten wie Ameisen auf ihren Pfaden hintereinander her. Noch niemals wurde Hopps von einem Fuchs oder Jäger verfolgt, noch nie litt er und seine Familie unter Futtermangel, so dass er neue Weidegründe hätte suchen müssen. So fiel es ihm leicht Abstand von diesem gefährlichen Weg zu halten. Er fürchtete die großen rasenden Wesen in ihren starken Schutzpanzern. Trotzdem plagte ihn die Neugier was es jenseits der Straße zu entdecken gäbe. Oft hockte er oft am Straßenrand und schaute den gigantischen Panzerkäfern zu, die rasend schnell an ihm vorbei huschten. Am ungefährlichsten wäre es nachts hinüber zu kommen, dann waren weniger von ihnen unterwegs, so viel hatte er herausgefunden. Er sagte sich immer wieder, dass er im Schutze der Dunkelheit irgendwann auch herausfinden würde was es drüben zu entdecken gab. Aber im Grunde seines Herzens war Herr Hopps ein Feigling. Eine richtige Bangebüchs, ein Schlotterhase, ein echter Hasenfuß. Es verging eine lange Zeit und während seiner vielen Streifzüge über das Wiesengelände, die ihn immer entlang des Käferweges führten, wurde seine Neugier immer größer.
Eines Tages sah er zufällig wie ein ihm unbekanntes Wesen auf der anderen Straßenseite vor einem Zaun herum tippelte. Es hatte fast seine Größe, sah aber ganz anders aus. Es lief ein paar Schritte, setzte sich auf die Hinterpfoten, um anmutig eine Vorderpfote zu heben und zu belecken, schaute anschließend gelangweilt in die Runde, stand auf, dehnte und streckte sich und verschwand nach wenigen Schritten durch eine Lücke im Holzzaun. Hopps hatte sich lange schon gefragt was es dort hinter diesem hohen Zaun zu sehen gab. Sollte er dem Wesen folgen? Er ging einen Schritt vor, schreckte aber vor den vorüber sausenden Panzerkäfern zurück. Er machte einen großen Satz nach hinten. Nein, das war viel zu gefährlich, beschloss er. Er würde es nicht bei Tag wagen, nicht bei dieser Gefahr. Herr Hopps war nicht nur ein Feigling, er war auch wohl überlegt, vorausschauend, vorsichtig und alles was er tat wog er sorgfältig und sehr genau ab. Einmal etwas Falsches getan und schon ging es einem Hasen an den Kragen.
Er lief nun häufiger zu dieser Stelle, um herauszufinden, ob er das Wesen öfter zu Gesicht bekäme. Er hatte Glück, das so wundersame andere Wesen schien dort hinter dem Zaun zu wohnen. Mal schaute es nur kurz zwischen den Holzlatten hindurch und zog sich wieder zurück, mal sah er es, einem Schatten gleich, nur schnell hindurch huschen. Manchmal lag es aber auch vor dem Zaun und räkelte sich träge im Sonnenlicht. Es schien die Wärme der Sonne sehr zu mögen, denn wenn sie hoch am Himmel stand, sah er es häufiger. Sein Fell glänzte in der Sonne. So oft er aber nun auf seinem Aussichtsposten saß, das fremde Wesen schien ihn noch nicht bemerkt zu haben. Da aber irrte Herr Hopps sich gewaltig, denn auch Mimmi, die Katze, hatte ihn längst entdeckt und versuchte seine Aufmerksamkeit zu erregen. Auch sie hatte Angst die gefährliche Straße zu überqueren, denn sie war von dem Hausherrn, bei dem sie lebte, des Öfteren kräftig ausgeschimpft und ermahnt worden nur ja im Garten zu bleiben, um nicht von den Autos überfahren zu werden. Sie versuchte sich daran zu halten, aber hat man schon je davon gehört, dass jemand Katzen die Neugier verbieten könnte. Nein. Neugier ist den Katzen angeboren.
Auch Herr Hopps würde immer neugieriger: Er wollte das fremde Wesen unbedingt kennenlernen, denn es ging ihm nicht mehr aus dem Kopf. Zuhause fragte seine Frau Hasina ihn immer öfter: „Wo bist du denn nur mit deinen Gedanken? Hast du gehört was ich gesagt habe?“. Jedesmal stammelte er etwas, entweder er wäre viel unterwegs gewesen und weit gehoppelt oder der Tag war so anstrengend und er wäre jetzt müde und müsse schlafen gehen, denn morgen wäre wieder ein neuer Tag. Danach verkroch er sich in eine ruhige Ecke und hing seinen sehnsüchtigen Gedanken nach. Frau Hasina beobachtet das mit Sorge, sagte aber nichts dazu.
Es zogen wieder Wochen ins Land, bis Herr Hopps all seinen Mut zusammen raffte und eines Nachts heimlich aufbrach, die Straße zu überqueren. Der helle Vollmond beleuchtet seinen Weg. Als er an der breiten Schneise ankam, lag sie ruhig vor ihm. Kein riesiger Blechkäfer raste an ihm vorbei. Nur gut, dass man sie in der Dunkelheit schon von weiten an ihren großen leuchtenden Nachtaugen erkennen konnte. Vorsichtig schaute er in alle Richtungen, um dann mit langen Sätzen den breiten Weg zu überqueren. Auf der anderen Seite angekommen, jagte sein Herz so sehr, dass er glaubte es müsse ihm zerspringen. Neben der Freude das kleine Abenteuer unbeschadet überstanden zu haben, wusste er aber auch, er würde wieder zurück müssen. Nachdem er ein wenig verschnauft und sich beruhigt hatte, beäugte er vorsichtig das Loch im Zaun. Anschließend zwängte er sich hindurch. Was er hier nun entdeckte verschlug ihm die Sprache. Eine saftig grüne Wiese lag vor ihm, neben der der prächtigste Salat wuchs. Möhrengrün ragte aus der Erde und so manche Leckerei wuchs neben der anderen. Kräuter betörten mit ihren würzigen Düften seine auf und ab zuckende Nase und seine Barthaare zitterten vor Aufregung.
„Oh, wir haben Besuch“, tönte es plötzlich hinter ihm und Hopps erschrak so sehr, dass er einen riesigen Satz nach vorn machte.
„Entschuldige bitte, wenn ich dich erschreckt habe, das wollte ich nicht“, sagte Mimmi, die sich anmutig gesetzt hatte und in aufmerksam anblickte.
„Das hast du wirklich“, sagte Hopps, „ich habe dich gar nicht kommen hören.“
„Das ist eine meiner Spezialitäten, heimlich kommen und heimlich gehen, schleichen, ungehört jagen, Mäuse überraschen, die mir sonst entwischen würden“, lächelte Mimmi.
„Du jagst Mäuse, bei dem großen Überfluss an Grünzeug?“
„Aber ja, das Zeug dort lässt mich kalt. Aber sag, wer bist du und was treibt dich her?“
„Mein, mein Name ist Ha-hase“, stotterte Hopps vor Aufregung. „Nein, entschuldige ich bin Hase und mein Name ist Hopps und du?
„Mimmi, ich bin eine Katze.“
„Eine Katze, ich hab schon von Katzen gehört, aber noch nie eine getroffen.“
„Na, dann schau her.“ Mimi stand auf, setzte anmutig eine Pfote vor die andere, umrundete den aufgeregten Hopps ganz langsam, danach setzte sie sich ihm genau gegenüber.
„Du hast mich schon öfter beobachtet?“, fragte Mimi mit einem Ton der deutlich machte, dass sie es wusste.
Hopps fühlte sich von Mimmi ertappt. Könnten Hasen vor Scham rot werden, so wäre er es wohl geworden.
„Ja, einige Male“, gab er kleinlaut zu.
Mimmi lachte ein helles Katzenlachen, dass wie Musik in Hopps langen Ohren klang.
„Oh, dass muss dir nicht peinlich sein, dass ich es bemerkt habe. Es ist meine Aufgabe, alles zu bemerken, was sich in der Umgebung bewegt. Ich habe dich übrigens auch schon länger beobachtet. Du gefällst mir. Ich spürte deine Neugier, die meiner so ähnlich ist.“
Mimmi und Hopps unterhielten sich noch eine ganze Weile. Sie hatten Spaß zusammen, entdeckten was sie gemeinsam hatten und was sie trennte. Und jeder Satz, den sie miteinander wechselten, machte sie neugieriger mehr voneinander zu erfahren. Als der Morgen langsam graute, machte sich Hopps schweren Herzens auf den Heimweg.
„Kommst du wieder?“ fragte Mimmi.
„Bestimmt, ich will viel mehr von dir wissen, von deinem Leben hier auf dieser Seite der Straße.“ Von Mimmi hatte er erfahren, dass der breite Weg Straße genannt wurde und dass die Blechkäfer, gar keine Käfer sondern Autos waren, die die Menschen benutzten um schneller unterwegs zu sein. Er hatte einiges gelernt. Aber auch Mimmi hatte etwas über die andere Seite der Straße gelernt. Sie hatte von Hopps Kindern erfahren, von seiner Frau Hasina, von seinen täglichen Streifzügen, um Futter aufzuspüren und vieles mehr.
Viel zu schnell war diese wunderschöne unterhaltsame Nacht vorübergegangen.
Mimmi begleitet Hopps bis zum Straßenrand und gemeinsam achteten sie darauf, dass er unbeschadet wieder hinüber gelangte.
„Ich werde hier auf dich warten“, sagte Mimmi zum Abschied
„Und ich werde wiederkommen, ganz bestimmt!“, versprach Hopps.
Wieder auf der anderen Seite angekommen, jagte er in riesigen Sätzen zum Hasenbau, huschte hinein und fiel sofort in tiefen Schlaf.
Am Morgen hätte er fast verschlafen, er gähnte und rieb sich die Augen, denn er war es ganz und gar nicht gewohnt die ganze Nacht aufzubleiben. Er kuschelte sich sonst immer sehr früh ins Hasennest, um früh am nächsten Morgen als erster den Tag zu begrüßen. Hasina bemerkte natürlich, dass an diesem Morgen etwas anders war, aber sie fragte ihn nicht. Ein paar Tage vergingen. Hopps dachte immer häufiger über Mimmi nach. Er wollte sie unbedingt weder sehen und so plante er seinen nächsten nächtlichen Ausflug.
Bald saßen die beiden wieder zusammen bei Mimmi im Garten und hatten sich viel zu erzählen. Sie wurden nicht müde zu schwatzten und zu lachen, saßen dicht nebeneinander, spürten die Wärme des anderen durch ihren Pelz hindurch und fühlten sich rundum wohl. Beide waren froh jemanden gefunden zu haben mit dem sie Spaß haben konnten. Es war eine ungewöhnliche Freundschaft, aber sie war tief und taten ihnen gut. Je mehr sie voneinander erfuhren, umso enger kamen sie zusammen. Hopps wollte nicht mehr nach Hause und wenn er dann doch ging, brach es Mimmi das Herz, weil sie ihn gehen lassen musste.
Wäre nun Hopps nicht so ein Hasenfuß gewesen, dann hätte er sich im grünen Paradies, wo alles wuchs was ein Hase sich nur erträumen konnte, niedergelassen. Aber es schien im sicherer zu sein, sich immer nur des Nachts und heimlich hierher zu schleichen, um mit Mimmi zusammen zu sein. Natürlich war es ein Trugschluss von ihm, dass das wirklich sicherer war und unbemerkt blieb. Aber auch bei Mimmi blieb es nicht unbemerkt, dass sich etwas geändert hatte. Sie hatte keine Lust mehr Mäuse zu jagen, lag tagsüber herum, döste vor sich hin und träumte von den nächtlichen Treffen mit Hopps. Die Mäuse tanzten ihr förmlich auf dem Pelz herum und es störte sie nicht. Den Hausherrn, bei dem sie lebte, störte es aber umso mehr Er drohte ihr, sich eine neue Katze anzuschaffen und sie wegzugeben, wenn sich das nicht wieder ändern würde. An Mimmi prallten diese Drohungen ab, sie wäre keine Katze gewesen, wenn sie sich durch Drohungen hätte einschüchtern lassen.
Kurz darauf aber sollte sich alles ändern, denn der Hausherr, machte seine Drohung war und verjagte Mimmi. Was brauchte er eine Katze, die ihren Dienst nicht tat. Er war es leid eine Katze im Haus zu haben der die Mäuse egal waren. In einem alten Schuppen, unweit ihres alten Zuhauses hatte Mimmi ein neues Heim gefunden. Es war dort längst nicht so gemütlich, der Komfort nicht so üppig, all das machte ihr nichts aus, solange sie Hopps nur immer wieder besuchte. Und Hopps kam immer wieder zu ihr. Nur für immer bei ihr zu bleiben, das traute er sich nicht. Nachdem Mimmi von ihrem Hausherrn so schlagartig aus dem kleinen Paradies vertrieben worden war, hatte er noch mehr Angst. Er fürchtete es könne ihm ähnlich ergehen wie ihr. Er wurde noch umsichtiger, noch vorsichtiger und kam seltener zu Mimmi als zuvor. Er wagte sich nur noch zu ihr, wenn er sich ganz sicher war, dass es niemand bemerken würde
Dennoch hielten beide aneinander fest. Lange Zeit trafen sie sich heimlich des Nachts. Mimmi litt besonders unter der Zeit der Trennung, wenn es ganz schlimm wurde sang sie sehr traurige Katzenlieder. Obwohl Hopps vieles auf seiner Seite der Straße nicht gefiel, traute er sich daran etwas zu ändern. Ein echter Hasenfuß eben. Tagsüber suchte er das Futter für die Hasensippe, die ihn sehr in Anspruch nahm. Weil Mimmi nun oft allein war, genoss sie die gemeinsame Zeit mit Hopps noch viel mehr. Sie liebte die kleinen gemeinsamen Ausflüge, die sie machten, tanzte vor Freude, wenn Hopps sie zum Lachen brachte und beide genossen die Träume, die sie gemeinsam hatten, wenn sie sich ausmalten wie schön alles sein könnte, wenn sie immer zusammen wären.
Hopps hatte oft ein schlechtes Gewissen. Mehr als einmal versuchte er Mimmi nicht mehr zu treffen, sich nicht mehr heimlich nachts über die Straße zu schleichen, aber er ertappte er sich dabei, wie er auf seinen Streifzügen doch immer wieder näher an die Straße kam, nur um einen Blick auf Mimmi zu erhaschen. Er war sicher sie jedes Mal zu sehen, denn Mimmi wartete immer geduldig an der gleichen Stelle auf ihn. Immer hoffte sie er würde kommen. Ihre Hoffnung trog sie nicht und jedes Mal, wenn Hopps kam, hoffte Mimmi auch, dass er diesmal für immer bleiben würde.
Wenn Hopps oder Mimmi nicht von den riesigen Blechkäfern überfahren wurden oder Hopps nicht eines Tages ein leeres Hasennest vorfand oder sie sich nicht mutig ein eigenes gemeinsames Katzenhasennest gesucht haben, werden sie sich bis ans Ende ihrer Tage nacheinander sehnen und voneinander träumen, denn in schönen Träumen gibt es keine gefährlichen Straßen, keine heimlich zu durchquerende Dunkelheit und keine Hindernisse. Aber wer weiß, was schon morgen passiert, denn nur einen daumenbreit hinter dem Spiegel der Wirklichkeit passieren die allerwundersamsten Dinge. Vielleicht springt der Spiegel entzwei und die Welt dahinter wird eins mit der Realität vor dem Spiegel. Zwischen jetzt und nie kann unendlich viel geschehen.
Wer weiß denn schon was morgen passiert?